In den Stunden und Tagen nach dem Amoklauf in Graz zeigten einige Medien eine besonders unrühmliche Seite – geprägt von Spekulationen, verstörenden Bildern und unangebrachten Besuchen.
Am Dienstag erschütterte ein Amoklauf an einer Grazer Schule das ganze Land. Während Einsatzkräfte versuchten, die Lage unter Kontrolle zu bringen und Angehörige betreut wurden, übertrafen sich viele Medien in medienethischen Verfehlungen: Sie spekulierten über Motive, zeigten Aufnahmen der Opfer und veröffentlichten identifizierendes Material. Ein Überblick über die schwerwiegendsten Verstöße gegen journalistische Sorgfaltspflichten der letzten beiden Tage.
Klicks über alles – das Problem mit dem Opferschutz
Die Polizei hatte die Lage gerade erst gesichert. Polizeisprecher Sabri Yorgun gab der Presse die wenigen, aber gesicherten Informationen weiter: Ein Einzeltäter tötete gegen 10 Uhr vormittags mehrere Personen und verletzte weitere. In einem Sportstadion wurde eine Sammelstelle für die Eltern der Opfer und der Überlebenden eingerichtet.
Zu diesem Zeitpunkt hatte der FPÖ-nahe Propagandasender Auf1 aber bereits eine „Informantin“ kontaktiert – eine 16-jährige Schülerin, die ihnen exklusiv Videos zuspielte und Informationen von Rettungssanitätern vor Ort weitergab. Stolz schreibt der Verschwörungssender: „Die 16-Jährige steht stark unter Schock und hat uns diese Informationen weinend übermittelt.“
Die Videos sind verstörend, unterlegt mit bedrückender Musik. Sie zeigen, wie offensichtlich Schwerverletzte in einen Rettungshubschrauber transportiert werden oder tragen Titel wie „Schrecklicher Anblick: Tote Schüler auf Rettungstragen aufgereiht“. Die Tagespresse hat einen Überblick der in diesen Stunden geposteten Videos veröffentlicht.
Die Seite Oe24 verlinkt diese Videos zunächst in einem Beitrag, löscht ihn später jedoch wieder. Gegenüber dem Standard bestreitet die Redaktion überhaupt, das Material veröffentlicht zu haben.
Es ist davon auszugehen, dass zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Videos viele Eltern noch auf dem Weg zur von der Polizei eingerichteten Sammelstelle waren. Dem Schutz der Angehörigen zum Trotz setzt Auf1 mit diesen „exklusiven“ Aufnahmen auf Klicks. Sie sind damit nicht alleine. Auch Kronen Zeitung, Exxpress, ServusTV und die deutsche Bild verbreiteten Handyaufnahmen aus der Schule. Mit Titeln wie „Video zeigt Amok-Horror an Grazer Schule“ wurden Nutzer:innen auf die Seiten gezogen. Das Innenministerium fordert gleichzeitig dazu auf, „keine Fotos oder Videos vom Einsatz in sozialen Netzwerken zu veröffentlichen, um die laufenden Ermittlungen, die Opfer und die Einsatzkräfte zu schützen“.
Der österreichische Presserat mahnt ebenfalls Zurückhaltung ein, Bilder sind einprägsam und Videos können retraumatisierend wirken. Kinder und Jugendliche sind dabei besonders geschützt. „Die Berichterstattung über Unglücksfälle und Katastrophen findet ihre Grenze im Respekt vor dem Leid von Opfern und den Gefühlen von Angehörigen“ sagt dazu der deutsche Presserat.
Dieser Opferschutz wird auch durch voyeuristische Schilderungen verletzt, wie sie in der Kronen Zeitung am Mittwoch auf Seite 4 zu lesen sind („(…) brechen blutüberströmt zusammen (…)“).
Wenn „angeblich“ reicht – das Problem mit Spekulationen
Gerade, weil die Informationslage zu Beginn noch dünn und die Frage nach dem „Warum“ groß ist, verfallen auch viele Medien wilden Spekulationen.
Bereits kurz nach der Tat treffen zahlreiche österreichische und deutsche Medien ein. Sie berichten, was ihnen der Polizeisprecher mitteilt – und was sie darüber hinaus an Spekulationen aufschnappen. Eine Reporterin der ntv Nachrichten berichtet, dass der Täter „ungehemmt durch Klassenzimmertüren“ geschossen habe – „angeblich“. Wie genau die Tat passiert ist, ist bis heute unklar.
„Angeblich“ war der Täter auch Schüler des betroffenen Gymnasiums, erzählt sie – und so steht es auch bereits kurz nach der Tat in zahlreichen Medienberichten, ohne dass es dafür eine Bestätigung durch Polizei oder Innenministerium gegeben hätte. Später stellt sich heraus: Es handelte sich um einen ehemaligen Schüler.
Auch das Gerücht, der Ex-Schüler sei ein Mobbingopfer gewesen, verbreitet sich schnell und hartnäckig. Mit der Schlagzeile „Abschiedsbrief gefunden – Amokläufer fühlte sich gemobbt“ verbreitet Oe24 überhaupt gleich eine Falschinformation – denn aus dem Abschiedsbrief ist kein Motiv herauszulesen, wie Franz Ruf, Generaldirektor für öffentliche Sicherheit, in der ZiB klarstellte. Auch Medien wie die rechte Seite Exxpress („Späte Rache? Ex-Schüler war der Schütze – Mobbing als Tatmotiv“) oder das Gratisblatt Heute („Was steckt hinter Amok? ‚Aus Kränkung, Wut wird Gewalt‘“) beteiligen sich früh an den Spekulationen.
Das Problem daran: Auch wenn sie später berichtigt oder näher beschrieben werden, bleiben diese Spekulationen über den Tathergang und die Motivlage in der öffentlichen Wahrnehmung bestehen. Außerdem können sie die Ermittlungsarbeiten, die zeitgleich beginnen, behindern. So wie Clickbaits dienen Spekulationen oft nicht der Information, sondern der Emotionalisierung und Reichweitensteigerung.
Für die Reportage mit dem Titel „Daheim beim Amokläufer“ suchten Journalist:innen des Profil noch am Tag des Attentats das Haus der Familie des Täters auf und redeten mit Nachbar:innen und sogar bei der Mutter – die nicht öffnete. Aus der Tatsache, dass der 21-Jährige mit seinem 18-jährigen Nachbarn keinen Kontakt hatte, schließt profil, dass der Täter „sehr distanziert“ gewesen sein müsse. Ein echter Erkenntnisgewinn ergibt sich daraus nicht. Das „Porträt“ wurde trotzdem gebracht– für Klicks.
Gefährlicher Fokus auf den Täter – das Problem der Täter-Heroisierung
Auch die Gefahr der Täter-Heroisierung wird oft übersehen – der österreichische Presserat warnte bereits am Folgetag davor. Der Täter wird etwa durch die Verbreitung von Fotos, biografischen Details oder einer übermäßigen Fokussierung auf seine Person glorifiziert.
So veröffentlichte die Kronen Zeitung als erstes Medium online großflächig zwei unverpixelte Fotos des Attentäters, kurz danach macht das Oe24. Am Folgetag gestalten beide Medien sogar ihre Titelseiten damit. Ob die Veröffentlichung der Fotos so zulässig ist, muss im Einzelfall geprüft werden. Problematisch ist sie jedenfalls.
In der gestrigen ZiB 2 mahnte der Jugendpsychiater Paul Plener nämlich, dass Medien „möglichst wenig Identifikationspotenzial“ mit dem Täter liefern und sich daher so wenig wie möglich mit seiner Person beschäftigen sollten. Das Nachahmungspotenzial sei zu groß. Tatsächlich berichtet Franz Ruf vom Innenministerium am nächsten Tag im Ö1 Morgenjournal von ersten Nachahmungstätern, die Drohungen gegen Schulen ausgesprochen hätten.
Bei Suiziden – und im aktuellen Fall handelt es sich um einen suizidalen Amoklauf – soll wegen der Gefahr der Nachahmung auf überschießende Berichterstattung verzichtet werden, sagt dazu auch der österreichische Presserat.
Dennoch stürzt sich vor allem der Boulevard am Tag nach dem Attentat auf alle Details über den Täter. Spekulationen über sein Motiv („Der Killer sah sich als Opfer“, Krone) rücken seine Perspektive in den Mittelpunkt. Berichte über sein „dunkles Seelenleben“ (Krone) oder „neue Details über Amok-Schützen“ (Oe24) verstärken den Täter-Kult. „Die Fotos – so lebte der Grazer Attentäter mit der Mama“ heißt ein anderer Bericht auf Heute. Dort findet sich eine Bildstrecke mit Fotos von Nachbarschaft, Wohnhaus und Täter (mit Augenbalken).
Die Aufnahmen des Wohnhauses sind auch aus einem anderen Grund problematisch – denn auch die Hinterbliebenen des Täters haben Anspruch auf Persönlichkeitsschutz. Am Mittwoch zeigt die ZiB 13 im Beitrag „Attentäter in Heimatort kaum bekannt“ ebenfalls mehrere Aufnahmen des Gebäudes, inklusive Hausnummer. Etwa zwei Stunden später wird der auf ORF On gespeicherte Beitrag bearbeitet – und die Aufnahmen entfernt, „aus rechtlichen Gründen“.
Der 10. Juni war auch eine medienethische Bewährungsprobe. Viele Medienhäuser scheiterten. Selbstverständlich muss eine Tat dieses Ausmaßes öffentlich – und damit auch medial – aufgearbeitet werden. Doch wer schockierende Videos zeigt, den Persönlichkeitsschutz von Opfern und Angehörigen verletzt oder bereits wenige Stunden nach der Tat wilde Mutmaßungen verbreitet, trägt dazu nichts bei. Im Gegenteil: Solches Verhalten untergräbt Vertrauen, verschärft Leid – und wirkt im schlimmsten Fall nach.
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