Die Titelstory der Kronen-Zeitung vom 19. Dezember behauptet eine „Explosion“ der Kriminalität, obwohl diese in den letzten zehn Jahren rückläufig war. Selbst der Trick eines „Langzeit-Vergleichs“, bei dem Zahlen aus dem Jahr 1996 mit den aktuellen Zahlen (PDF) verglichen wurden, ergibt unter Berücksichtigung des Bevölkerungswachstums nur einen Anstieg von rund 6% in 17 Jahren, also weit entfernt vom behaupteten explosionsartigen (also exponentiellen) Anstieg. Doch auch dieser Vergleich hat einen Haken.
Denn vergleicht man die Statistiken von 1991 bis 2013, sieht man, dass die Kriminalität in Österreich im Jahr 2000 rapide anstieg und seitdem eher rückläufig ist. Das ist auf einen Systemwechsel bei der Erfassung der Straftaten zurückzuführen. Vor dem Jahr 2000 erfolgte die Zählung der angezeigten Straftaten auf fehleranfälligen Datenblättern, sogenannten “Stricherllisten”, seitdem wird elektronisch erfasst. Das Bundesministerium für Inneres vermerkte im Jahr 2001 zu diesem Systemwechsel:
Ein Vergleich mit der bisherigen polizeilichen Kriminalitätsstatistik ist daher nicht aussagekräftig.
Grundsätzlich sind Kriminalitätsstatistiken mit Vorsicht zu genießen, beispielsweise da die Zahl von Anzeigen nicht mit der Zahl von tatsächlichen Straftaten korrelieren muss. Ein Artikel des „Guardian“ hält solche Statistiken für „bedeutungslos“ und würde sie am liebsten verbannen. Es gibt auch zahlreiche wissenschaftliche Artikel, die sich mit dem Thema der Glaubwürdigkeit von Kriminalstatistiken beschäftigen und diese oftmals in Frage stellen.
6 Kommentar(e)
Und warum macht man keine „Gerichts-Statistik“ und zieht diese heran? Also rechtskräftige Verurteilungen? Dann wäre das Problem mit einem Schlag gelöst, denn diese Daten wären aussagekräftig!
Qualitätsjournalismus zur komplexen Materie von Kriminalstatistiken wurde vor kurzem von Michael Matzenberger im Standard geliefert:
https://derstandard.at/2000009415478/Warum-die-Kriminalitaet-nicht-zwingend-mit-der-Toetungsrate-sinkt
Lieber Wolf,
dieser Zahl fehlen dann allerdings andere Faktoren, wie außergerichtliche Lösungen, nicht angezeigte Verbrechen (Dunkelziffer), falsche Schuldsprüche, falsche Freisprüche. Auch eine „Gerichtsstatistik“ kann nicht das erfassen, was z.B. die Krone „beweisen“ will.
Lg
@Wolf: Wäre es? Änderungen in der Strafgesetzordnung (zb USA: In einigen Staaten ist der Besitz von Cannabis plötzlich nicht mehr strafbar -> hunderttausende weniger Verurteilungen) fehlen, Änderungen im Vorgehen (aktuell: Aktion Scharf gegen mutmaßliche islamistische Terroristen) und im gesellschaftlichen Umgang (höhere Anzeigerate von früher noch mehr verschwiegenen Verbrechen wie Vergewaltigungen) wären so immer noch nicht berücksichtigt. Dazu kommen alle Diversionen und außergerichtlichen Einigungen.
Besonders dreist ist ja, dass im Artikel (jedenfalls in der verlinkten Online-Version) zunächst ein – angesichts der Zahlen im Grunde völlig aus der Luft gegriffener – Zusammenhang mit der Schengen-Öffnung in den Raum gestellt wird („dass diese Zahlen vor dem 1. Dezember 1997, also bevor Österreich die Schengen-Außengrenze überwachte, viel niedriger waren“). Die Zurückweisung dieses Zusammenhangs und der Hinweis auf den Systemwechsel durch die Ministerin kann dann als ‚Demento‘ hingestellt werden, was ja angesichts dessen, dass „Viele „Krone“-Leser das ohnehin ahnten“, wie es im ersten Satz heißt, – wie praktisch! – völlig untergeht.
Die verfälschte Wiedergabe der jährlichen Kriminalitätsstatistik scheint in der österreichischen Boulevardpresse System zu haben. Die Leser darüber besonders dreist zu belügen pflegt überdies Österreichs auflagenzweitstärkste Verschenkzeitung, nämlich Jahr für Jahr aufs neue.