Wir lesen Zeitung
und schauen fern.

„Österreich“ hat eine kriminelle Dauerexplosion

Österreich wird immer gefährlicher“ titelt die Gratiszeitung „Österreich“ am 7. Mai. Die Kriminalität sei „stark gestiegen“. Dieses Cover ist der vorläufige Höhepunkt einer verantwortungslosen Panikmache, die seit Jahren andauert.

Bildschirmfoto 2016-06-10 um 15.36.02

Screenshot (144)

Um es gleich vorwegzunehmen: Die Kriminalität nimmt leicht ab. Zahlen für 2016 gibt es noch nicht, in den letzten zehn Jahren wurden aber noch nie so wenige Anzeigen erstattet wie im Jahr 2015. Das scheint „Österreich“ allerdings nicht zu interessieren, denn egal was die Statistik sagt: In „Österreich“ wird Österreich immer gefährlicher.

 

Eine Chronologie der Kriminalberichterstattung:

13. Mai

13.5.

„Österreich“ schließt von einzelnen Fällen wie einer Vergewaltigung oder einem Angriff mit einer Eisenstange auf angeblich „explodierende“ Gewalt. Eine Formulierung, die im Gratisblatt sehr beliebt zu sein scheint.

1. Mai

1.5.b

Die Zahl der schwersten Delikte, so schreibt „Österreich“ wörtlich, „schnellt alarmierend nach oben“. Nun, ganz so alarmierend ist es nicht: Im vergangenen Jahr stiegen sogenannte „Schwerstdelikte“ ganz leicht, sie nahmen um 0,4 Prozent zu  (pdf, S. 56).

29. April

29.4.b

Massenschlägereien heißen in „Österreich“ prinzipiell Bandenkriege. Diese seien „außer Kontrolle“. Zwischen Tirol und Wien soll ein „täglicher Horror“ spuken. Wieder ist von steigender Kriminalität die Rede.

28. April

28.4.b

Das Zentrum dieser „Kriege“ ist offenbar Wien, wo die Bürger „in Angst und Schrecken“ leben. Was ein echter Krieg ist, weiß hoffentlich jeder, der in den vergangenen Jahren etwas aus Syrien gehört hat.

20. April

20.4.b

72 Prozent der Österreicher fürchten sich vor Verbrechen, in den Öffis habe jeder Fünfte Angst. Ob ein Zusammenhang zwischen „Österreich“-Lesern und verängstigten Menschen besteht, wäre allerdings zu untersuchen.

12. April

Bildschirmfoto 2016-06-10 um 15.52.02

Bahnhöfe, Ausgehmeilen oder ganze Stadtteile sind angeblich so gefährlich, dass „Österreich“ seine Leser rechtzeitig davor warnt. Die Leute dort „schlagen, erpressen, morden“. Außerdem werden die Hauptstädter „immer brutaler“ und wieder ist von irgendwelchen „Bandenkriegen“ die Rede.

1. April

1.4.b

Die Nachrichten werden schlimmer. Nun behauptet das Blatt: „Einbrecher werden immer brutaler“. Wieder nimmt „Österreich“ zwei Einzelfällen und macht daraus einen allgemeinen Trend. Die Zahl der Wohnraumeinbrüche ist übrigens deutlich rückläufig (pdf, S. 56).

18. März

18.3.b

Pünktlich zur neuen Kriminalstatistik beschwört das Blatt eine gesellschaftliche Katastrophe herauf. Da die Kriminalität in Wien sinkt, pickt sich „Österreich“ einen Wert heraus, der im Vergleich zum Vorjahr gestiegen ist (Gewaltdelikte) und behauptet, er sei „explodiert“. Tatsächlich gab es bei Gewaltdelikten einen Anstieg von sechs (!) Prozent, von 14.996 auf 15.928 Anzeigen.

16. Februar

16.2.b

Und wieder eine „Explosion“. Damit niemand auf die Idee kommt, sich in den virtuellen Raum zurückzuziehen, erinnert „Österreich“ vorsorglich daran, dass Kriminelle ihr Treiben ins Netz verlagern würden. Tatsächlich stieg die Internet-Kriminalität im letzten Jahr, jedoch war sie in den Jahren 2012 und 2013 bereits höher – von „Explosionen“ sind wir also weit entfernt.

27. Jänner

27.1.b

Eigentlich ist im Artikel von „Diebstählen, Sachschäden und Körperverletzungen“ die Rede – aber im Titel muss schon das reißerische Wort „Terror“ stehen, damit die Aussage richtig Feuer bekommt.

Diese Artikel sind alle in diesem Jahr erschienen. Die Jahre davor sieht die Berichterstattung aber auch nicht anders aus:

2015 berichtet „Österreich“ über minütliche Verbrechen. 2014explodiert“ der Fahrrad-Klau, 2013 gerät der Praterstern „völlig außer Kontrolle“.

Screenshot (135)Screenshot (136)Screenshot (137)

Auch 2012 „explodieren“ Gewalt, Kriminalität und Internet-Kriminalität.

Screenshot (139)Screenshot (140)Screenshot (141)

2011 liest man von einer „Explosion“ von Handtaschenraub. Interessant dabei: Vor allem montags und donnerstags solle man ganz besonders auf seine Tasche aufpassen. Und da das offenbar nicht angsteinflößend genug ist, zählt „Österreich“ zwei Monate später noch die größten Geiselnahmen der vergangenen zwei Jahrzehnte auf. Wir sagen danke, die hätten wir sonst fast vergessen.

Screenshot (134)Screenshot (138)

Schon 2010 pickte das Blatt einen steigenden Wert der Kriminalstatistik heraus und verbreitete mit einem vermeintlichen „dramatischen Anstieg an Mordfällen“ Angst unter seinen Lesern. Dass fast alle anderen Delikte rückläufig waren, wäre ja langweilig zu erwähnen.

Screenshot (125)

Und erinnern wir uns – so sieht die Kriminalstatistik für die vergangenen zehn Jahre aus:

Screenshot (144)

Co-Autorin: Gabriele Scherndl

Medien fallen auf Spekulation zu Bitcoin-Gründer rein
AMS-Mitarbeiter leben weniger gefährlich als Boulevard meint

7 Kommentar(e)

Markus - Am 16. June 2016 um 10:11

Kann man gegen diese Blätter nicht irgendwie Gerichtlich vorgehen?

Markus - Am 16. June 2016 um 11:41

Man kann nicht gerichtlich dagegen vorgehen, weil die Pressefreiheit sonst in Gefahr wäre. So lange die eigentlichen Fakten im Artikel nicht falsch sind, wird auch keine Gegendarstellung veröffentlicht.
Das Problem wäre nämlich sonst, dass nur mehr eine Interpretation der Ereignisse zulässig wäre (nämlich jene die der aktuellen Regierung recht ist). Deswegen akzeptieren fast alle Staaten der Welt lieber ein paar Schundblätter.

Helge Fahrnberger - Am 16. June 2016 um 11:54

Kurz gesagt: Es gibt kein Gesetz, das Medien verbietet, die Unwahrheit zu verbreiten. (Es gibt Gesetze gegen Dinge wie üble Nachrede oder unlauteren Wettbewerb, aber das liegt hier nicht vor.)

karl falschner - Am 16. June 2016 um 19:01

Da schmiert die Regierung diese Kasblattln schon mit Millionen Euro an Inseraten im Jahr, und die sind noch immer nicht auf Linie! Da müssen härtere Maßnahmen her.

nömix - Am 17. June 2016 um 10:18

Ergänzend dazu die „Österreich“-Lügenmeldungen
über die Kriminalstatistik 2011
und die Kriminalstatistik 2013

(Auf dem gleichen „Angst vor Kriminalität in Österreich wächst“-Loch pfeift übrigens auch die Kronen Zeitung.)

Herr Besorgt - Am 17. June 2016 um 14:36

Wenn schon nicht auf gerichtlichem Wege, wie wär es, den Pressekodex anzupassen um den Raum wichtigem Journalismus zu überlassen? Diese Schundblätter sind in gewisser Weise der Motor für die schleichende Verdummung in unserem Land…

Zum Glück gibt’s Kobuk – Teilnehmende Medienbeobachtung - Am 20. June 2016 um 22:16

[…] Hier geht’s zum Kobuk-Eintrag: „Österreich“ hat eine kriminelle Dauerexplosion […]