Der Wien-Korrespondent der ARD vergleicht das äußerst umstrittene Projekt Stuttgart 21 mit dem Bau des Wiener Hauptbahnhofs:
In Wien passiert Ähnliches wie in Stuttgart: Auch hier soll ein neuer Durchgangsbahnhof den bisherigen Kopfbahnhof ersetzen. Aber Proteste gibt es hier nicht.
Doch der Vergleich hinkt massiv. Dass wir Wiener – selbst die Opposition! – den neuen Hauptbahnhof mehrheitlich begrüßen, während die Stuttgarter das Projekt S21 mehrheitlich ablehnen, könnte an einigen ganz wesentlichen Unterschieden liegen:
- Der Wiener Hauptbahnhof ersetzt zwei Kopfbahnhöfe, zwischen denen eine Taxifahrt oder eine mühsame Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln liegt. Er schließt eine Eisenbahnlücke zwischen West- und Osteuropa und verknüpft erstmals die österreichischen Linien Westbahn, Südbahn, Ostbahn und Nordbahn. S21 wandelt lediglich einen Kopfbahnhof in einen Durchgangsbahnhof um.
- Der Wiener Hauptbahnhof kostet € 930 Mio. (Bahninfrastruktur) bzw. € 1,2 Mrd. (Gesamtprojekt). S21 kostet hingegen nach Schätzung des Bundesrechnungshofes € 5,3 Mrd. Umgelegt auf die Bevölkerungszahlen ist S21 damit etwa zwölfmal so teuer als der Wiener Hauptbahnhof. Die Kosten in Wien sind im Projektverlauf relativ stabil geblieben (plus 130 Mio) während die Kosten in Stuttgart bereits um Milliarden Euro gestiegen sind.
- Der Hauptbahnhof wird oberirdisch in einem relativ unattraktiven Teil Wiens gebaut, den abgerissenen Bauten weint niemand eine Träne nach, auch nicht das Denkmalamt. S21 wird unterirdisch mitten im Zentrum gebaut, betroffen sind denkmalgeschützte Bauten und der Stuttgarter Schlosspark.
- Wien ist ein deutlich wichtigerer Bahnknotenpunkt als Stuttgart, das nur an einer transeuropäischen Achse liegt. Auch hat Wien drei Mal so viel Einwohner – und damit vermutlich Bahnreisende – als Stuttgart.
- Die verkehrsplanerische Reife von S21 ist strittig, die des Wiener Hauptbahnhofs nicht. Hier wird lediglich die mangelhafte Anbindung an das innerstädtische Verkehrsnetz bemängelt.
- Auch die Einbindung der Öffentlichkeit dürfte in Wien, wo ein Zentralbahnhof seit beinahe hundert Jahren diskutiert wird, deutlich besser gelaufen sein. In Stuttgart hingegen verhinderte der Oberbürgermeister trickreich eine Volksabstimmung, die 60.000 Bürger per Unterschrift gefordert hatten – 40.000 mehr als notwendig, um die Stadt zu einer solchen zu verpflichten. Er schuf frühzeitig vollendete Tatsachen, das Volk fühlt sich um sein Recht auf Mitbestimmung betrogen.
Lässt sich Andreas Meyer-Feist, der Wien-Korrespondent der ARD, der diese augenfälligen Unterschiede kennen müsste, vor den Karren der S21-Befürworter spannen?
25 Kommentar(e)
Die Frage am Ende ist natürlich rein rhetorisch, aber trotzdem: „Ja?“
Danke für die Infos, phantastisch, wie hier der Spin der ARD entlarvt wird.
hab mich sowieso gefragt, was der blöde Vergleich soll.
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Eine imho nicht unwichtige Ergänzung:
– In Wien 10 statt 11 Gleise, in Stuttgart 8 statt 16.
Während es durchaus plausibel erscheint, dass man durch einen Durchgangsbahnhof geringfügig schneller operieren kann und daher ein Gleis weniger trotzdem ein mehr an Kapazität bedeutet, ist eine halbierung der Gleise definitiv eine Reduzierung der Kapazität.
@Hanno: Klingt plausibel, allerdings fehlt mir das Fach- und Hintergrundwissen um diese Entscheidungen beurteilen zu können. Hast du da weiterführende Links?
Danke für die aufschlussreiche Auflistung.
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@Helge: Ich bin auch kein Bahn-Experte, aber ein 2 Jahre zurückgehaltenes Gutachten, welches dann einem Journalisten zugespielt wurde, geht davon aus, dass massive Kapazitätsengpässe durch S21 entstehen:
https://kopfbahnhof-21.de/index.php?id=534
In den ursprünglichen Planungen waren übrigens 10 Gleise vorgesehen, da wurde aber aus Kostengründen gekürzt. Im Moment gibt es wohl noch einen Expertenstreit darüber, ob man das später bei Bedarf noch nachrüsten könnte oder ob das völlig unrealistisch ist.
Stuttgart 21: Der differenzierte Protest…
Ein (ausgesprochen schlechter) Artikel bei der Tagesschau, der den Wiener mit dem Stuttgarter Bahnhofsneubau vergleicht, brachte mich auf einige Gedanken über Besonderheiten des Protests gegen Stuttgart 21. Im Normalfall geht man eigentlich davon aus,…
@Hanno: Danke, hab ich als Punkt 5 eingebaut. Übrigens lesenswerter Blogbeitrag von dir! Gibt einige Parallelen zu #unibrennt letztes Jahr.
7. In Wien ist mit der SPÖ eine linke Partei für das Projekt Hauptbahnhof verantwortlich. In Stuttgart sind es mit schwarz-gelb natürlich die gemeinen, bösen Rechten.
Und kann sich noch jemand an die Augartenbesetzung 2009 erinnern? Sängerknaben? Wega Einsatz?
@Armin: Der Artikel will keineswegs suggerieren, dass in Wien alles besser sei.
Gute Klarstellung. Vor allem aber: es geht nur auch um einen Bahnhof, vor allem aber auch um das Gefühl der Ohnmacht.
Dieses beruht darauf, dass in Stuttgart die Bürger 14 Jahre lang vor den Kopf gestossen und an der Nase herumgeführt wurden und ihr dort grundsätzlich vorhandenes Recht einen Volksentscheid per Unterschriftensammlung zu erzwingen durch Amtsträger unterlaufen wurde. Man sollte dazu unbedingt https://www.zeit.de/2010/39/Bahnprojekt-Stuttgart-21 gelesen haben, dann wird klarer, warum dieser „Volkszorn“ so gross ist.
@Hanno
Deine Angabe „8 statt 11 Gleise“ glaube ich nicht, meiner Erinnerung nach gab es auf der Südbahnseite „Bahnsteig 11-19“, dazu kommen noch die unterirdische Schnellbahnstation und die Bahnsteige auf der Ostseite. Wenn man auf Google Maps die Bahnsteige zählt kommt man auf ca. 20+2 Bahnsteige.
@Helge
Ich glaube ein wichtiger Punkt ist die Tatsache, dass das Gelände, auf dem der neue Südbahnhof errichtet wird, vorher schon für die Bahn verwendet wurde und erst mit dem Neubau wirklich öffentlich zugänglich wird.
Abgesehen davon war der Südbahnhof auch deswegen unattraktiv, weil er saudreckig war. Hätte man den Bahnhof geputzt und das total verdreckte Glasdach der Bahnhofshalle ersetzt, dann wäre die Architektur besser zur Geltung gekommen und es hätte sich mehr Widerstand gegen den Abriss entwickelt.
„Auch hat Wien drei Mal so viel Einwohner – und damit Bahnreisende – als Stuttgart.“
Ich kenne die Passagierzahlen nicht, aber „drei Mal so viel Einwohner“ ist nicht unbedingt gleichbedeutend mit „drei Mal so viel Bahnreisende“, oder?
@Martin: Danke, hab’s in Punkt 7 eingebaut.
@Bausi: Du hast Recht. Habe ein „vermutlich“ hinzugefügt.
@Helge: Suggestion pro/contra Wien liegt mir fern. Mich fasziniert das rege Interesse am Baumschutz so fernab der eigenen Stadt. Einmal abgesehen von der Augartenbesetzung… weiss noch jemand, auf was sich das Graffiti hier bezieht? https://bit.ly/afAl3G
Wenn unter Punkt 5 mehrere kritische Seiten zitiert werden, sollten auch Pro-Seiten zitiert werden, damit sich der Leser sein eigenes Bild machen kann: https://werwigk.de/ oder https://www.das-neue-herz-europas.de/ z.B.
@jemand: Wenn ein Satz aussagt, dass es gewichtige Argumente gegen etwas gibt, ergibt es keinen Sinn, auf Argumente dafür zu verlinken. Außerdem dürfte außer Frage stehen, dass es Argumente dafür gibt, sonst hätte sich wohl niemand gefunden, der das Projekt in Angriff nimmt.
@Helge Dein letzter Satz verrät grossen Optimismus bezüglich der Vernunftgeleitetheit der menschlichen Natur. 🙂 Aber ich gebe Dir recht, denn: ich teile diesen. lg!
„Wenn ein Satz aussagt, dass es gewichtige Argumente gegen etwas gibt, ergibt es keinen Sinn, auf Argumente dafür zu verlinken.“
Dann ist dieser Wien-Stuttgart-Vergleich also nur „Contra-S21“ zu sehen? Ansonsten müsste das Argument lauten „In Wien gab es nur Befürworter, in Stuttgart gibt es beides“ … wie gesagt, mit Verlinkungen auf beide Seiten. So jedoch …
@Jemand: Geh bitte.. Die Aussage des Punktes 5 ist: Verkehrsprojekt 1. Es gibt gewichtige Zweifel an der verkehrspolitschen Sinnhaftigkeit: Link 1, Link 2. Verkehrsprojekt 2: Keine Zweifel.
Wien/Stuttgart, das ist die Gegenüberstellung (und zwar als Nachweis der journalistischen Fehler des ARD-Artikels). Nicht pro/contra S21. Das wird eh überall sonst diskutiert.
So schwer zu verstehen?
„Werwigk“ ist die ehemalige Justizministerin in BaWü, FDP. Deren Mann saß im Verwaltungsrat der Landesbank BaWü (LBBW).
Nur mal so ein Paar (also -2-) Verbindung hergestellt – und schon sieht man die Lage klarer.
I beg your pardon – but that is just the way it is.
Mal ein paar Tage später noch ein Nachtrag an Argumenten: In Wien wird auch kein Bauland mitten in der Stadt frei, wohingegen in Stuttgart die Eigentümer ein großes Interesse haben, die Grundstücke mitten in der Stadt entsprechend auszuschlachten. Und vermutlich ist da nicht so viel Bestechung und Geschachere im Hintergrund gewesen.
@Karl: Hier irrst du. Der Wiener Hauptbahnhof bringt mit der „Bahnhofcity“ ein gigantisches Immobilienprojekt huckepack.
Zusätzlich: In Wien bleibt z. B. der Bahnhof Wien West (Kopf) für den Regional/Pendlerverkehr erhalte.
Zu den Bahnreisende:
Beim Stuttgarter Hauptbahnhof sind es laut Bahn bereits heute 240.000 pro Tag [1] während beim Wiener Hauptbahnhof 125.000 pro Tag prognostizier [2] werden.
Quellen:
[1] https://www.bahnhof.de/site/bahnhoefe/de/sued/stuttgart__hbf/daten__und__fakten/daten__und__fakten__.html
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Wien_Hauptbahnhof