Wir lesen Zeitung
und schauen fern.

Mit einem kontroversionellen Auftritt bei der ARD-Talkshow „Beckmann“ versuchte „No Angels“-Sängerin Nadja Benaissa letzten Dienstag ein neues Kapitel im Drama rund um ihren sogenannten HIV-Prozess aufzuschlagen. Man möchte meinen, dass die „Österreich“ – Redaktion, die den Fall seit geraumer Zeit detailliert dokumentiert, es für wichtig erachten könnte, diesen Auftritt auch tatsächlich anzusehen, was im Zeitalter von On-Demand kein Problem darstellen kann.

Abschreiben statt Recherche?

Stattdessen vermittelt der Artikel von Oe24 den Eindruck, als hätte man den Artikel der BILD-Zeitung Stück für Stück umformuliert. So ähneln sich schon die Schlagzeilen „No Angels-Nadja gibt Opfer Mitschuld!“ (BILD) und „Nadja Benaissa gibt Opfer Mitschuld“ (Österreich).

Dann der erste Absatz:

Die Sängerin stellte sich in Begleitung ihres Anwalts den Fragen des Moderators – sprach aber fast nur über die Zeit vor ihrer Verhaftung und die „Riesen-Lawine“, die danach über sie hereinbrach! (BILD)

Das wird zu:

Nadja erschien in Begleitung: An ihrer Seite war ihr Anwalt. Die meiste Zeit sprach sie über die Zeit vor der Verhaftung und über die Zeit danach, über die „Riesen-Lawine“, die da über sie hereinbrach. („Österreich“)

Dem zweiten Absatz widerfährt ein ähnliches Schicksal

Oe24 berichtet weiters:

Über ihre Schuld schwieg Benaissa. Sie räumte nur ein: (..) Sich selbst sieht die 28-Jährige als ‚lebendiges Beispiel und auch ein lebendes Mahnmal, was das Thema HIV betrifft.‘ („Österreich“)

BILD hatte dies zehn Stunden früher fast wortgleich formuliert:

Über ihr Opfer, ihre Schuld verlor sie dagegen kaum ein Wort, sagte nur: (..) Bei Beckmann sah sich Nadja nun als „lebendiges Beispiel und auch ein lebendes Mahnmal, was das Thema HIV betrifft.“ (BILD)

Der Rest des „Österreich“-Artikels scheint sich ähnlich am BILD-Artikel zu orientieren. Dass es auch anders geht, zeigen Bunte, Gala oder Welt, einzig der Schweizer Blick scheint auch bei BILD abzukupfern.

In eigener Sache: Heute beginnt die Wintersemester-Ausgabe der Lehrveranstaltung am Publizistikinstitut, für das ich Kobuk.at letztes Frühjahr gestartet habe. Allerdings ist Kobuk längst mehr als ein Uniprojekt, dank vieler engagierter Gastautoren, allen voran Hans Kirchmeyr.

Von ihm stammt auch der Artikel „Implosion einer Krone-Titelstory„, den auch der „Falter“ in seiner heutigen Ausgabe erwähnt. Dieser beehrt uns mit einem Artikel unter dem Titel „Die Wachhunde der Wachhunde“ – im Volltext nachzulesen im Blog von Autorin Ingrid Brodnig. Gleich mache ich mich auf den Weg in die Marc-Aurel-Straße, um die 20 Falter-Exemplare abzuholen, die uns dankenswerterweise zur Verfügung gestellt werden.

(Danke an Robert Harm für den Scan!)

Der Wien-Korrespondent der ARD vergleicht das äußerst umstrittene Projekt Stuttgart 21 mit dem Bau des Wiener Hauptbahnhofs:

In Wien passiert Ähnliches wie in Stuttgart: Auch hier soll ein neuer Durchgangsbahnhof den bisherigen Kopfbahnhof ersetzen. Aber Proteste gibt es hier nicht.

Doch der Vergleich hinkt massiv. Dass wir Wiener – selbst die Opposition! – den neuen Hauptbahnhof mehrheitlich begrüßen, während die Stuttgarter das Projekt S21 mehrheitlich ablehnen, könnte an einigen ganz wesentlichen Unterschieden liegen:

  1. Der Wiener Hauptbahnhof ersetzt zwei Kopfbahnhöfe, zwischen denen eine Taxifahrt oder eine mühsame Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln liegt. Er schließt eine Eisenbahnlücke zwischen West- und Osteuropa und verknüpft erstmals die österreichischen Linien Westbahn, Südbahn, Ostbahn und Nordbahn. S21 wandelt lediglich einen Kopfbahnhof in einen Durchgangsbahnhof um.
  2. Der Wiener Hauptbahnhof kostet € 930 Mio. (Bahninfrastruktur) bzw. € 1,2 Mrd. (Gesamtprojekt). S21 kostet hingegen nach Schätzung des Bundesrechnungshofes € 5,3 Mrd. Umgelegt auf die Bevölkerungszahlen ist S21 damit etwa zwölfmal so teuer als der Wiener Hauptbahnhof. Die Kosten in Wien sind im Projektverlauf relativ stabil geblieben (plus 130 Mio) während die Kosten in Stuttgart bereits um Milliarden Euro gestiegen sind.
  3. Der Hauptbahnhof wird oberirdisch in einem relativ unattraktiven Teil Wiens gebaut, den abgerissenen Bauten weint niemand eine Träne nach, auch nicht das Denkmalamt. S21 wird unterirdisch mitten im Zentrum gebaut, betroffen sind denkmalgeschützte Bauten und der Stuttgarter Schlosspark.
  4. Wien ist ein deutlich wichtigerer Bahnknotenpunkt als Stuttgart, das nur an einer transeuropäischen Achse liegt. Auch hat Wien drei Mal so viel Einwohner – und damit vermutlich Bahnreisende – als Stuttgart.
  5. Die verkehrsplanerische Reife von S21 ist strittig, die des Wiener Hauptbahnhofs nicht. Hier wird lediglich die mangelhafte Anbindung an das innerstädtische Verkehrsnetz bemängelt.
  6. Auch die Einbindung der Öffentlichkeit dürfte in Wien, wo ein Zentralbahnhof seit beinahe hundert Jahren diskutiert wird, deutlich besser gelaufen sein. In Stuttgart hingegen verhinderte der Oberbürgermeister trickreich eine Volksabstimmung, die 60.000 Bürger per Unterschrift gefordert hatten – 40.000 mehr als notwendig, um die Stadt zu einer solchen zu verpflichten. Er schuf frühzeitig vollendete Tatsachen, das Volk fühlt sich um sein Recht auf Mitbestimmung betrogen.

Lässt sich Andreas Meyer-Feist, der Wien-Korrespondent der ARD, der diese augenfälligen Unterschiede kennen müsste, vor den Karren der S21-Befürworter spannen?

Hans Peter Lehofer ist Medien- und Telekomrechtler und ehem. Chef der Medienbehörde KommAustria. Dieser Gastbeitrag erschien zuerst in seinem Blog unter dem Titel „Journalismus vom Hörensagen (oder: muss man das First Amendment kennen, um darüber zu schreiben?)“

„Traurig genug, dass wir darüber reden müssen, was Pressefreiheit ist“, schreibt Helmut Brandstätter in seinem aktuellen Kurier-Leitartikel. Er setzt fort mit dem Lamento, dass wir in Österreich nun „über ein Thema diskutieren, das in den USA seit 219 Jahren geregelt ist: die verfassungsrechtliche Absicherung der Pressefreiheit.“ — und er kommt zu einem interessanten Ergebnis: „wenn das Redaktionsgeheimnis nichts mehr wert ist, brauchen auch wir eine Verfassungsbestimmung.“

Blöd nur, dass das Redaktionsgeheimnis in Österreich verfassungsrechtlich besser abgesichert ist, als es in den USA mit dem von Brandstätter gelobten „First Amendment“ der Fall ist. Denn Art 10 EMRK, in Österreich unmittelbar geltendes Verfassungsrecht, schützt auch journalistische Quellen. In den Worten des EGMR, jüngst im Urteil der Großen Kammer im Fall Sanoma Uitgevers (siehe dazu hier):

„The right of journalists to protect their sources is part of the freedom to ‚receive and impart information and ideas without interference by public authorities‘ protected by Article 10 of the Convention and serves as one of its important safeguards. It is a cornerstone of freedom of the press, without which sources may be deterred from assisting the press in informing the public on matters of public interest.“

Der erste Zusatzartikel zur US-Verfassung („First Amendment“) lautet (auszugsweise):

„Congress shall make no law … abridging the freedom of speech, or of the press“

Nun umfasst das allerdings keineswegs zwingend auch den Schutz des Redaktionsgeheimnisses („reporters‘ privilege“), sodass immer mehr US-Staaten dazu übergegangen sind, eigene „Shield Laws“ zu verabschieden, um das Redaktionsgeheimnis – unterhalb der Verfassungsebene – zu schützen. Der Supreme Court hat bislang nämlich einen allgemeinen Schutz des Redaktionsgeheimnisses abgelehnt (maßgebend mit knapper Mehrheit Branzburg v. Hayes aus dem Jahr 1972), der jüngste spektakuläre Fall in diese Richtung war „In re: Miller“ (siehe dazu hier oder hier), in dem es der Supreme Court abgelehnt hat, den Fall der NYT-Reporterin Judith Miller anzunehmen, die wegen ihrer Weigerung, journalistische Quellen offenzulegen, tatsächlich in Haft musste.

Zusammenfassend: in Österreich haben wir eine Verfassungsbestimmung, die — nach der Rechtsprechung — auch das Redaktionsgeheimnis schützt. In den USA — auf Bundesebene — nicht.

Traurig genug, dass wir darüber reden müssen, was journalistische Sorgfalt ist.

Illustration: Graffito auf der Berliner Mauer, (cc) Jotquadrat

 

Ein Gericht verbietet dem TV-Sender RTL per einstweiliger Verfügung, Nacktszenen der preisgekrönten deutschen Schauspielerin Sibel Kekilli zu zeigen. Kekilli hatte im Alter von 22 Jahren in einem Porno mitgespielt.

Nach so vielen Jahren hat sie es nicht mehr zu dulden, dass die Szenen im Fernsehen ausgestrahlt werden.

..zitiert das Gratisblatt „Heute“ sowie Heute.at das Gericht. Und illustriert den Artikel ausgerechnet mit einer Nacktszene aus besagtem Porno. „Deutschland-Verbot, bei der APA im Archiv“ lautet die speicheltriefend-heuchlerische Rechtfertigung in der Bildunterschrift. Das Kammergericht Berlin hat der BILD außerdem schon 2004 verboten, Nacktszenen aus dem Film abzudrucken. Aber solang’s die APA im Archiv hat..

Die Headline „Verbot ihrer Sexfilme“ ist übrigens schlichtweg falsch, der Gerichtsentscheid bezog sich nur auf eine Ausstrahlung auf RTL.

„Heute“ am Montag:

Schock-Studie: Unsere Kids suchen im Web nach „Sex“
Immer mehr Kinder suchen in der virtuellen Internet-Welt nach Antworten auf erste erotische Fantasien: Selbst bei den unter Siebenjährigen (!) rangiert das Wort „Porno“ auf Platz 4 der am häufigsten verwendeten Suchbegriffe. […] Das ergab eine aktuelle Uni-Studie. Erstmals werteten Wissenschafter die Suchbegriffe minderjähriger Computernutzer aus […]

Die spannendste Nachricht verschweigt uns „Heute“ freilich: Die „Universität“, an der diese „wissenschaftliche“ Studie über „unsere“ Kids durchgeführt wurde, notiert an der NASDAQ. Es handelt sich nämlich um den Software-Hersteller Symantec in Kalifornien.

Erforscht wird dort höchstens, wie man den Absatz seiner eigenen Sicherheitslösungen steigert. Zum Beispiel von „Norton Online Family“, einem Internetfilter mit dem besorgte Eltern das Surfverhalten ihrer Kleinen rigoros überwachen und einschränken können.

Bereits im Dezember 2009 (soviel zum Thema „aktuell“) hat Symantec jene Liste der Top 100 Suchbegriffe unter Kindern veröffentlicht, aus der „Heute“ zitiert. Das Unternehmen hatte dazu anonym Suchanfragen ausgewertet, die über jene Accounts der Filtersoftware liefen, die Eltern für ihre Kinder eingerichtet hatten.

Diese Vorgangsweise erlaubt zwar beeindruckende soziographische Auswertungen, deren Aussagekraft dürfte sich allerdings aufgrund methodischer Schwächen etwa umgekehrt zur PR-Wirkung verhalten:

  • So wurden nur Suchanfragen von Kindern erfasst, deren Eltern die Filtersoftware (ev. nach konkreten Anlässen?) installiert haben.
  • Das Tool könnte auch vorzugsweise in Familien und Ländern (soviel zum Thema „unsere“ Kids) installiert werden, die einen — nun ja — eher bigott-prüden Umgang mit Sexualität pflegen. Wie Kinder auf Verbote und Tabus reagieren, sollte niemanden überraschen.
  • Ev. wollten diese Siebenjährigen und noch Jüngere auch gar nicht ihre „ersten erotischen Fantasien“ befriedigen, wie „Heute“ unterstellt, sondern erst mal nur nachschlagen, wovon die anderen da die ganze Zeit reden?
  • Vielleicht hat Papa in der Nacht auch einfach nur vergessen, sich mit dem richtigen Account einzuloggen?

Die Antwort, warum selbst unter den Kleinsten schon so viele nach „Sex“ und „Porn“ gesucht haben, könnte aber auch noch viel banaler sein:

  • Stellt euch mal kurz vor, ihr seid Vater oder Mutter und habt diesen neuen Internetfilter installiert. Wie würdet ihr nun testen, ob er auch tatsächlich funktioniert…?

Die Auslandskorrespondenten der taz wehren sich gegen Kündigung und neue Verträge:

Die beiden Zutaten, sinkende Auflagen und damit Werbeeinnahmen bei den Tageszeitungen und die Möglichkeit, direkt und unvermittelt mit uns, der Öffentlichkeit, in Kontakt zu treten, legen die Vermutung nahe: Solche Aktionen werden wir nicht zum letzten Mal gesehen haben.

Außerdem wird es eh Zeit, dass sich auch in Europa Journalisten zusammentun und selbst Neues ausprobieren, ähnlich wie die Gründer von Politico in den USA.

(Via Gawhary.)

Dieser Gastbeitrag von Robert Menasse erschien zuerst auf seiner Facebook-Seite, unter dem Titel „Die herrschende Meinung ist noch dümmer als die Meinung der Herrschenden“.

Gestern, am 12. September 2010 schrieb der KURIER-Kolumnist A. S. auf Seite 1, im sogenannten „Einserkastl“, über das „Thema Integration“ und die „Thesen“ von Thilo Sarrazin:

Wer hat jetzt recht? Sarrazin, der auch überzogen hat? Seine Kritiker, die ihn in vorauseilendem Gehorsam (wem gegenüber eigentlich?) mundtot machen wollen und damit eigentlich die Demokratie abschaffen?

Man weiß bei Herrn S. nie, ob er einen schlampigen Gedanken perfid formuliert, oder ob er bloß unfähig ist, einen naturtrüben Gedanken klarer zu formulieren. Versuchen wir einmal, ihn zu verstehen:

Er meint also, dass die Kritiker von Thilo Sarrazin „eigentlich“ die Demokratie abschaffen. Wir ersparen uns jetzt einen Exkurs über den „Jargon der Eigentlichkeit“, über den Adorno ein Buch geschrieben hat, das am Beispiel von (immerhin Heidegger) vorführt, wie Sprache zum Werkzeug der Täuschung wird, die sich gegen Kritik darüber immunisiert, dass sie jederzeit das Gegenteil des Geschriebenen als „eigentlich“ Gemeintes, das Gegenteil des Verstandenen als „eigentlich“ Geschriebenes, das Gegenteil von Sinn als „eigentliche“ Wahrheit behaupten kann. Man darf Herrn S. nicht vorwerfen, dass er auch dieses Buch nicht kennt, aber man muss ihn doch fragen, ob ihm klar ist, was er, um es in seinem Jargon zu sagen, „eigentlich“ geschrieben hat:

Die Kritiker von Thilo Sarrazin schaffen also „eigentlich“ die Demokratie ab. Das ist ein Satz, der ein Faktum behauptet. Nun ist aber, trotz heftiger, massiver, breiter Kritik an Sarrazin nirgendwo im deutschen Sprachraum, in dem „die Thesen“ von Sarrazin diskutiert werden, nachweislich abgeschafft worden, was hier unter Demokratie verstanden wird. Das ist ein Faktum, das völlig widerlegt, was er als Faktum behauptet. Ich habe den Verdacht, dass Herr S. eigentlich etwas anderes „eigentlich“ schreiben wollte, etwas anderes „gemeint“ hat: nämlich, dass das „wollen“ vom ersten Satzteil sich auch auf den zweiten bezieht, er also schreiben wollte: „mundtot machen wollen“ und damit auch die „Demokratie abschaffen wollen“ – allerdings hat er in der fünften Klasse Gymnasium gelernt, „unschöne Wortwiederholungen“ zu vermeiden, also hat er das zweite „wollen“ weggelassen“, statt das erste an das Ende des Satzes zu ziehen.

Aber selbst wenn er es „eigentlich“ so gemeint hatte – es wird dadurch nicht viel besser. Denn selbst für den Satz, dass die Kritiker von Sarrazin die Demokratie abschaffen WOLLEN, gibt es keine einzige faktische Bestätigung. Es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass auch nur ein einziger Kritiker Sarrazins irgendwo, ganz entlegen, gesagt oder geschrieben hat: Wir wollen Thilo Sarrazin mundtot machen, weil wir wollen die Demokratie abschaffen.

Warum schreibt der Journalist einer Tageszeitung, die den Fakten verpflichtet sein sollte, also einen solchen Satz? Weil er ihn „eigentlich“ nicht so gemeint hat?

Wenn man länger darüber nachdenkt, kommt man zu dem Gedanken, dass Herr S. vielleicht „eigentlich“ etwas anderes gemeint hat: nämlich nicht „Demokratie“, also Wahlen, die Entsendung von Volksvertretern nach bestimmten, in der Verfassung geregelten Verfahren, die Bildung einer Regierung etc., sondern „Meinungsfreiheit“. Vielleicht hat Herr S. nur dies gemeint: die Gegner von Thilo Sarrazin schaffen die Meinungsfreiheit ab, oder wollen die Meinungsfreiheit abschaffen. Nun haben aber die Gegner von Thilo Sarrazin nachweislich die Meinungsfreiheit nicht abgeschafft – denn sie verbreiten ja sogar seine Meinung, indem sie mit ihm in allen Talkshows auf und ab diskutierten. Und sie WOLLEN auch die Meinungsfreiheit nicht abschaffen, weil es just die Gegner von Thilo Sarrazin sind, die genau wissen, dass im Fall der Abschaffung der Meinungsfreiheit es ihre Meinung ist, die zuallererst abgeschafft wird. Also wieder ein faktischer, und dazu noch ein interpretativer Unsinn von Herrn S.

Lesen wir die Sätze von Herrn A.S. nochmals, um zu begreifen, was er gesagt hat – und wir entdecken eine weitere Technik, bei der „eigentlich“ (im Sinn des „Jargons der Eigentlichkeit“) nicht nachgewiesen werden kann, ob Herr S. sie in bewusster Perfidie oder bloß mit naturtrüben Bewusstsein eingesetzt hat:

Herr Sarazin, schreibt er, „hat überzogen“ – das heißt: ein bissl übertrieben, aber das wird man doch noch dürfen, um etwas zuzuspitzen.

Seine Kritiker aber, schreibt er, wollen ihn Mundtot machen und die Demokratie abschaffen, also ihn zum Schweigen bringen und jede vernünftige Grundlage eines gedeihlichen Zusammenlebens zerstören.

Diese Formulierung drückt klar aus, welcher Seite die Sympathie von Herrn S. gilt. Sie ist allerdings so formuliert, dass Herr S. jederzeit behaupten kann, „eigentlich“ habe er das nicht so gemeint.

Wenn Herr S. geschrieben hätte: „Der Ku Klux Clan hat übertrieben, als er auf soziale Probleme in den Südstaaten der USA hinwies, aber Martin Luther King wollte diese besorgten Bürger mit ihren schicken Kapuzen mundtot machen“, wäre die S.-Technik heute augenfällig. Er hätte umgekehrt auch schreiben können: „Herr Sarrazin betreibt Volksverhetzung, aber ein erfreulich großer Teil der deutschen Zivilgesellschaft und der deutschen Medien übt daran Kritik“ – dies wäre, auf Grund der FAKTENlage genauso gerechtfertigt gewesen…. und da stellt sich natürlich die Frage, warum Herr S. seine Formulierung so gewählt hatte, wie er es „eigentlich“ tat (wenn wir immer noch voraussetzen, dass Herr S. seine Formulierungen bewusst wählt!)

Aber es wird ja noch abenteuerlich und zugleich auch verräterisch, wenn wir Herrn S. genau lesen: er schrieb ja nicht nur, dass die Kritiker Herrn Sarrazin „mundtot machen wollen“,  sonder auch, dass sie dies „in vorauseilendem Gehorsam (wem gegenüber eigentlich?) tun.“

Ich kann mir gut vorstellen, dass Herr S. beim schnellen Tippen plötzlich die Formulierung „in vorauseilendem Gehorsam“ hinschrieb, das kam plötzlich, ganz schnell, es muss ja schnell gehen, es muss eine Tageszeitung produziert werden. Da schreibt sich schon mal etwas ganz schnell von selbst, Floskeln, Phrasen, das fliegt einem routinierten Lohnschreiber, der ganz schnell für morgen etwas Geharnischtes schreiben soll, flott zu, und ich kann mir vorstellen, wie Herr S. in diesem Moment kurz stutzte und sich fragte: „Wem gegenüber eigentlich?“

Und da kam ihm diese Frage plötzlich sehr originell vor, kritisch, und dabei völlig logisch, da er, als ein Mann, der jede Zeile für Lohn schreibt und dabei weiß, wer die Eigentümer seines Mediums sind, und wem gegenüber er gehorsam zu sein hat, und wie er seinen Nimbus als „unabhängiger Journalist“ aufrecht erhalten kann, wenn er NICHT fragt, was er schreiben soll, sondern schreibt, was er WEISS, dass er schreiben soll, so eilig, so schnell…. für morgen! ….. Ich kann mir vorstellen, wie er, als ihm diese Frage einfiel („vorauseilend gehorsam. Wem gegenüber eigentlich?“),  sie ihm ungemein kritisch und kess vorkam, aber nicht so schmerzhaft, wie es eine selbstkritische Frage (die da so nahe lag) gewesen wäre, dass er gar nicht weiter darüber nachdachte und sie  tatsächlich gleich mit martialischem Gefühl hinschmierte: „Die Kritiker von Thilo Sarrazin wollen in vorauseilendem Gehorsam (!Mann, das ist kritisch!) aber wem gegenüber eigentlich? (Mann, das ist reflektiert!) ihn mundtot machen, Demokratie abschaffen……“

Tatsächlich ist diese Formulierung in diesem Kontext so unsinnig, dass es sogar bei einem Journalisten eine Entlassung rechtfertigen würde: Nicht jede Phrase passt in jeden Kontext. „Vorauseilender Gehorsam“ war noch nie der Grund für Kritik, die von der Zivilgesellschaft geäußert wird.

Wie wäre es zum Beispiel, wenn Herr S. statt „vorauseilendem Gehorsam“ den schönen, alten Begriff „Einsicht“ verwendet hätte, oder „Erinnerung“, „Wissen“, „Verpflichtung: Die Kritiker von Thilo Sarrazin üben Kritik in der Einsicht, wohin Volksverhetzung führt, die Spaltung der Gesellschaft, das Schüren von Hass. Sie haben noch die Erinnerung daran, was just in diesen Landen eine pseudowissenschaftliche Argumentation, die sich auf „Rassen“-Spezifika stützt,  schon einmal bedeutet hat, sie wissen, wohin Eugenik, Rassenlehre, Sterilisationsprogramme, SOZIALE Reinheitsgebote geführt haben, sie haben die Verpflichtung, dagegen aufzustehen und diesen Rückfall in die Barbarei, der mit dem unschuldigen „Ist-ja-wahr“-Gestus daherkommt, zu verhindern!!!! —- Da ist weit und breit kein „Gehorsam“, sondern, im Gegenteil, Widerstand gegen Tendenzen am Werk, die Menschen Grundrechte absprechen wollen – und dies wäre nach Herrn S. vom KURIER die „Abschaffung der Demokratie“?

Warum?

Dummheit?

Es wäre schön, wenn es Dummheit wäre.

Am selben Tag erschien in derselben Zeitung ebenfalls auf Seite Eins: „Die Blauen führen bei den unter Dreißigjährigen!“

Kann es sein, dass Herr S. seinen Unsinn, wie immer er ihn „eigentlich“ gemeint hat, „in vorauseilendem Gehorsam“ an die künftige Mehrheit in diesem Land geschrieben hat? Kann es sein, dass ein Zeilenschreiber-Idiot so luzid ist, dass er daran denkt, in einer „Das-wird-man-doch-noch-sagen-dürfen“- Gesellschaft die Annonce aufzugeben: „Ich will auch morgen noch für Euch schreiben dürfen!“?

„Österreich“ weiß:

Neuerdings setzt aber auch FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache auf „schuss- und stichsichere Westen“, wie er im ÖSTERREICH-Gespräch berichtet.

Und schreibt zur Abbildung rechts:

Kugelsichere Weste
So eine Weste trägt Strache nun bei Großveranstaltungen unter seinen Hemden…

Nun, das darf bezweifelt werden.  Auf der Seite des Spezialanbieters, von dem „Österreich“ das Foto hat, wird das Modell mit den ausgeprägten Protektoren als „Oberkörper-Schlagschutz“ geführt. Also hieb-, aber nicht schuss- und stichfest. Und am Körper getragen, sieht ein ähnliches Modell dann so aus — das Michelin-Männchen lässt grüßen. Sollte Strache tatsächlich so ein Gerät unter Hemd und Anzug kriegen, dann schafft er auch den Bürgermeister.

PS: Ein korrektes Symbolbild hätte sich zwei Modelle weiter unten auf der Herstellerseite gefunden.

Dann küsste Pocher einen Mann – wie Kachelmann, als er aus der U-Haft kam. („Österreich“, 7.9.2010)

Für „Österreich“ — exklusiv auf Kobuk: So küsst Kachelmann!