Bevor uns das Sommerloch schluckt und mit etwas Regen nachspült, ein paar Lesetipps:
„Tangst“ und „Textaphrenie“ gehen unter SMS-Vieltippern um, glaubt man den Viel-, Ver- und Abtippern bei APA, Kurier, Standard, Futurzone et al. Einzig die traditionell APA-fernere Krone scheint das skeptischer zu sehen („ausgemachter Blödsinn“) — und hat Recht. Die ganze Story hat Anatol Stefanowitsch mit übermenschlichemjournalistischem Rechercheaufwand (eine E-Mail an die vorgebliche Forscherin) hier zusammengetragen. (Via BILDblog).
- Blogger wissen es halt meist besser als die Journalisten. Ob wir’s allerdings auch besser machen, wenn wir die Chance dazu kriegen, daran darf gezweifelt werden. Die „Scroll-Edition“ (PDF), ein WELT KOMPAKT-Experiment mit Bloggern als Redakteuren, ist jedenfalls grandios gescheitert. „Blogger sind auch nur Menschen„, sagt dazu die Redaktion. „Blogger sind keine Journalisten“ und im gedruckten Wort trete die „Belanglosigkeit des Webs“ halt erst richtig zutage, meinen hingegen Blogger. Eine Übersicht über die verschiedenen Reaktionen, positiv wie negativ, hat die ZEIT in ihrer Blogschau zur Scroll-Edition gesammelt.
- Grandios gelungen hingegen dürfte ein anderes Zeitungs-Zukunfts-Experiment sein: Das Fontblog hat die iPad-Version von WIRED mit der gedruckten Ausgabe verglichen und scheint zu Recht tief beeindruckt — kein Vergleich zum Verriss der SPIEGEL-App, einige Wochen zuvor. (Via EnlargeYourPen)
- Grandios daneben — und längst vom Lauf der Dinge Lügen gestraft — schließlich noch die Erklärungen des deutschen Bundestrainers zu angeblich genetischen Vorteilen der Afrikaner und die unkritische Rezeption solcher Aussagen in den Medien, findet zumindest „Blogkow“.
- Ja, und falls auf Kobuk grad mal nix läuft, können wir immer einen kurzweiligen Abstecher zu nömix empfehlen.
Großartige Medienkritik zweier Studenten, über die Fernsehkritik.tv berichtet:
Text: „Hartz IV TV – Gegen Niveaulosigkeit im Nachmittags-TV“. Live auf Sendung beim WM-Spiel Kamerun gegen die Niederlande.
Vol.at hat ein paar Handyfotos von einer jungen Frau, die sich erdreistet als Verkäuferin zu arbeiten, aus der untersten Schublade gezogen.
Danke an Johannes M. für den gehaltvollen Tip zum geschmacklosen Artikel!
Durch das Ableben von Hans Dichand ist ein besonderers Medienereignis untergegangen: Der Beschluss des neuen ORF-Gesetzes (PDF), das auch die Einstellung der ORF Futurezone mit sich bringt.
Dazu ein paar Stimmen aus der Blogosphäre:
Beate Firlinger tritt in einem offenen Email an Medien-Staatssekretär Ostermayer für den Weiterbestand der Futurezone ein:
Die zahlreichen Argumente, die [gegen eine Einstellung] sprechen, sind Ihnen sicher bekannt. Ich möchte sie hier nicht wiederholen, nur darauf hinweisen, dass aus meiner bescheidenen Sicht die Vereinbarung zwischen ORF und VÖZ eine Form des Protektionismus darstellt, der nicht im Sinne zukunftsfähiger öffentlich-rechtlicher Online-Angebote des ORF agiert.
Martin Blumenau hält die Entscheidung ebenfalls für einen Fehler:
(..) Zudem versagt sich das Unternehmen (wie das einer der diesbezüglichen Vordenker formulierte) auch nur die Möglichkeit des Nachdenkens über den nächsten Schritt, also der demnächst aufschlagenden 3.0-Revolution. Das wird noch gravierende Probleme nach sich ziehen. Ein Gesetz ist allerdings nur für ein paar Jahre gültig, ehe es novelliert oder ersetzt wird – der Tod hingegen währt für immer.
In ihrem Blog KoopTech beschreibt Christiane Schulzki-Haddouti die Einstellung der Futurezone als Bauernopfer gegenüber dem Verband Österreichischer Zeitungsherausgeber im Streit um einen geschätzten Werbekuchen von 5 Mio €. Sie kritisiert:
Möglicherweise weiß ORF-Verhandlungsführer Grasl aber gar nicht, was er damit aufgegeben hat. Nämlich neben heise.de die einzige zuverlässige konstante Quelle zur europäischen Netzpolitik im deutschsprachigen Raum.
Ritchie Pettauer sieht das anders und stellt die Qualität der Fuzo in Frage:
Ich kann einfach nicht mit gutem Gewissen dafür eintreten, dass mit meinem Steuergeld eine Redaktion finanziert wird, die zum Großteil Meldungen wie “Lange Wartezeiten für iPhone 4 — Rekordandrang verzögert Auslieferung” von den Primärquellen ab– und umschreibt.
Mittlerweile hat sich mit „Retten wir die Futurezone“ und auf Facebook eine Initiative gebildet, die den ORF auffordert, Marke, Domain und Inhalte der Community zu übergeben, damit eine Weiterführung möglich wird.
Stellen Sie sich vor: Sie lesen in „Heute“ folgende Schlagzeile:
Sie wissen also schon mal, dass es sich um eine 32-jährige Österreicherin handeln muss, die offensichtlich ein Kind entführt hat. Das passende Bild unter der Schlagzeile lässt vermuten, dass diese Person mollig bis dick ist und dunkle Haare hat:
Zusätzlich dazu veröffentlicht „Heute“ im selben Artikel, dass es sich um eine „Elisabeth Sch.“ handelt, die eine Wohnung in Kössen, einem 4000-Seelen-Dorf in Tirol, hat.
Im § 7a des Österreichischen Mediengesetzes steht dazu Folgendes:
Werden in einem Medium der Name, das Bild oder andere Angaben veröffentlicht, die geeignet sind, in einem nicht unmittelbar informierten größeren Personenkreis zum Bekanntwerden der Identität einer Person zu führen, die (..) einer gerichtlich strafbaren Handlung verdächtig ist oder wegen einer solchen verurteilt wurde, und werden hiedurch schutzwürdige Interessen dieser Person verletzt, (..) so hat der Betroffene gegen den Medieninhaber Anspruch auf Entschädigung für die erlittene Kränkung.
Wer sich kurz Zeit nimmt und ein wenig googelt, hat schnell heraus gefunden, wieviele Elisabeths mit „Sch“ beginnendem Nachnamen es in Kössen gibt: Es sind mindestens sechs, leicht inklusive Anschrift und Telefonnummern auffindbar. Das alles innerhalb von wenigen Klicks für JEDEN! ersichtlich, dem Internet sei Dank.
Und jetzt stellen Sie sich vor, sie würden sich – aus welchen bizarren Gründen auch immer – an dieser Person rächen wollen. Glauben Sie, sie könnten dies mit Hilfe der Informationen im „Heute“-Artikel und beschränkten Internetkenntnissen bewerkstelligen? Glauben Sie, es wäre Ihnen möglich, herauszufinden, wer diese Frau Sch. ist, wo sie genau wohnt, wo sie arbeitet, vielleicht sogar wer ihre Familie ist? Bedenken Sie ihre Rachegefühle, ihren Hass! Wer könnte Sie schon aufhalten?
Oder was wäre, wenn Sie eine dieser Elisabeth Sch’s aus Kössen wären. Vielleicht sind Sie auch etwas mollig.
Und jetzt überdenken Sie nocheinmal die Rolle von „Heute“ und dem Schöpfer dieses Artikels, Claus Kramsl. Hätte er geschrieben „Elisabeth S.“ wären es immerhin neun Personentreffer mit Anschrift und Telefonnummer gewesen. Bei einer „Elisabeth S. aus dem Bezirk Kitzbühel“ (in dem Kössen liegt) wären es bereits 54 Treffer gewesen. Die Erweiterung auf Tirol hätte gar 415 Treffer erbracht. Niemand hätte nachvollziehen können, um wen es sich genau handeln könnte.
Die eigentliche Identität von Elisabeth Sch. hat „Heute“ nicht veröffentlicht, aber was ist mit den „andere Angaben“ , die (laut Mediengesetz) „geeignet sind, in einem nicht unmittelbar informierten größeren Personenkreis zum Bekanntwerden der Identität einer Person zu führen“?
Eine Frage, Herr Kramsl: Würden Sie einen Täter, der zufälligerweise wie Sie Claus K. heißt und aus Ihrem Heimatort stammt, auch so beschreiben?
Lieber Peter Pelinka,
In „Heute“ vom Dienstag, den 22.6.10 vergleichen Sie in ihrer Kolumne „Im Brennpunkt“ die Wiederwahl H.C. Straches mit 99,1% zum FPÖ-Parteichef mit nordkoreanischen Verhältnissen:
99,1 Prozent der Delegierten haben ihn gewählt und über seine Tiraden gegen alle ausländischen Gegner und inländischen Verräter gejubelt. Im Austria Center, aber sonst ganz wie daheim in Pjönjang. Das Ergebnis mutet ein wenig nordkoreanisch an? Gar nicht. Vor zwei Jahren waren es gar 99,3 Prozent gewesen.
Dass solche Wahlergebnisse in der österreichischen Politik so wie in wahrscheinlich jeder anderen Demokratie der Welt keine Seltenheit darstellen, darüber verlieren sie kein Wort: So wurde Werner Faymann erst vor kurzem mit 93,8 % zum Parteichef der SPÖ wiedergewählt, Eva Glawischnig Anfang 2009 mit 97,4% zur Bundesprecherin der Grünen.
Außerdem machen Sie in der selben Kolumne Kim Ir-sen alias Kim Il-sung zum aktuellen nordkoreanischen Diktator. Nur ist dieser bereits 1994 verstorben. Momentaner militärischer Anführer und damit Diktator Nordkoreas ist, wie auch auch Ihr „News“ schreibt, seit seinem Tod sein Sohn Kim Jong-Il.
Vielleicht war der Onlineredaktion von Heute.at der erste Artikel zu diesem Vorfall nicht skandalös genug, und so schrieb man eben – zeitgleich – einen zweiten:
Die Beinahe-Katastrophe von Tirol: […] Weil das zweite Triebwerk auszufallen und das zurückgekehrte Flugzeug über Innsbruck abzustürzen drohte, wurden sämtliche Feuerwehren alarmiert!
Dass weder eine Absturzgefahr noch eine Katastrophe drohte, kann man auch bei den Kollegen vor Ort nachlesen.
Die Illustration war ebenfalls fishy.
Gleich acht Menschen soll ein HIV-Infizierter auf dem Berliner CSD im Zuge eines Streits gebissen haben, berichtet das Berliner Boulevardblatt B.Z.
Die Polizei weiß zwar bislang nur von zwei Opfern, aber die offizielle Zahl hätte der schönen Headline vom „Amok-Beißer“ doch zuviel an Dramatik genommen. Zudem scheinen sich die Beamten bei den Ermittlungen ohnehin etwas verrannt zu haben:
Außerdem soll bei dem Beschuldigten auch ein Joint gefunden worden sein. Von ihm wurden auf der Wache Fingerabdrücke genommen, Fotos für die Kartei gemacht.
Unter der Schlagzeile „Lindsay Lohan futtert sich die Schenkel dick“ beschwert man sich auf Krone.at über die neuerdings gesunde Figur des Hollywood-Stars.
Früher hatte Lohan schwere Essstörungen – aber laut Krone.at offenbar immer noch besser als mit diesen – ach so furchtbar „dicken“ – Schenkeln herumzulaufen:
Essen statt Drogen und Alkohol: Ist das alles zu viel für Lohan? Einerseits muss sie sich unheimlich zusammenreißen – muss vom Alkohol und den Drogen wegkommen. Andererseits werden ihre Anstrengungen auch noch durch falsche Verdächtungen bombardiert. Ihre Lösung für das Problem ist offenbar futtern. Burger, Eiscreme, Pommes als beruhigende Ersatzbefriedung.
Abgesehen von der Tatsache, dass hier ein völlig verzerrtes Bild von der weiblichen Figur vermittelt wird, ist dieser Artikel geradezu ein Paradebeispiel für die Diskriminierung des weiblichen Geschlechts: Ganz à la Das schwache Geschöpf futtert, um mit seinen Problemen zurechtzukommen und erlaubt es sich auch noch dick zu werden.
49% aller 15-jährigen Mädchen fühlen sich zu dick, etwa jede 15. Österreicherin ist von Essstörungen betroffen. Müsste hier nicht das Jugendschutzgesetz zur Anwendung kommen? Dieses besagt:
Inhalte von Medien (..), die junge Menschen in ihrer Entwicklung gefährden könnten, dürfen diesen nicht angeboten, weitergegeben oder sonst zugänglich gemacht werden.
In einem Interview mit dem ZEIT-Magazin äußert sich der deutsche Altkanzler Helmut Schmidt, über die Hetze der BILD-Zeitung gegen Griechenland und nimmt dabei kein Blatt vor den Mund. Im Gespräch mit Chefredakteur Giovanni di Lorenzo, bezeichnet er die Berichterstattung des Boulevardmediums als „Missbrauch der Pressefreiheit“.
Auf die Frage, wo denn die Grenze zwischen rhetorischer Überzeugungskraft und purer Demagogie liege, antwortet Schmidt mit klaren Worten:
Wenn ich lese, wie die auflagenstärkste europäische Tageszeitung, genannt Bild, in den letzten Wochen beinahe jeden Tag den Lesern klargemacht hat, dass man sein eigenes Geld nicht dafür verwenden sollte, dem aus eigener Schuld in Not geratenen Nachbarstaat Griechenland zu helfen, dann ist das in Wirklichkeit Demagogie oder, wenn Sie so wollen, ein Missbrauch der Pressefreiheit.
(Via BildBlog/ Bild: Nuriya Fatykhova, Creative Commons)