Der „Kiss-Cam-Skandal“ zeigt nicht nur, wie unbedacht sich manche Menschen in der Umgebung leinwandgroßer Live-Kameraeinblendungen verhalten können. Der Fall ist auch ein Paradebeispiel dafür, wie fehleranfällig Medien als Reizverstärker sozialer Netzwerke arbeiten. In Österreich ist nach tagelanger Empörung zumindest leise Selbstkritik zu hören.
Coldplay spielen im Gillette Stadium bei Boston ihren Song „Yellow“, das Publikum leuchtet in Handylichtern. Die „Kiss Cam“ zoomt auf ein umarmendes Paar, das daraufhin in Panik gerät. Noch am selben Abend explodiert das Internet.
Was auf Kamera passiert ist, müssen wir an dieser Stelle nicht mehr erklären – den 14-sekündigen Clip hat inzwischen wohl jeder und jede gesehen. Vielmehr interessiert uns: Wie berichten Medien über das Social-Media-Phänomen? Zwischen Fake News, Spekulationen und Voyeurismus scheint eines zu stimmen: Was mit ausreichender Kraft von Social Media in „echte“ Medien schwappt, muss sich dort nicht mehr legitimieren.
Pech schützt nicht vor dem Pranger
Dass das Video so viral ging, liegt an zwei Faktoren: An der peinlich berührten Reaktion der offensichtlich in flagranti Ertappten. Und daran, dass der Mann, Andy B., kein Unbekannter ist, wie Social-Media-Nutzer:innen schnell herausfanden. Zumindest in der US-Tech-Branche. Er ist nämlich CEO eines dort ansässigen Tech-Unternehmens.
Den „Fall eines international bekannten CEOs“ nimmt man im Standard sogar zum Anlass für einen Ratgeber-Artikel zum Thema Fremdgehen. In Wahrheit war B. international überhaupt nicht bekannt – bis ihn die Kiss Cam traf.
Und wäre er nicht als Tech-CEO beim Coldplay-Konzert, sondern als Geschäftsführer eines mittelständischen österreichischen Unternehmens beim Seiler & Speer-Konzert mit einer Kollegin erwischt worden, hätten österreichische Zeitungen wirklich aufpassen müssen, ob und wie sie darüber berichten.
Denn nach österreichischem Medienrecht wäre der höchstpersönliche Lebensbereich eines bis dahin öffentlich unauffälligen Managers besonders geschützt – und eine Berichterstattung nur dann zulässig, wenn ein überwiegendes öffentliches Interesse bestünde. Und das dürfte sich eben nicht nur aus einem viralen Clip, sondern auch aus der gesellschaftlichen Relevanz oder beruflichen Funktion ableiten. In einem solchen Fall hätte man also vielleicht die Gesichter verpixelt und nicht die vollen Namen genannt.
Natürlich hätten sich Redaktionen auch bei B. und seiner Kollegin dazu entscheiden können, vorsichtiger zu berichten. Und manche, wie die Kleine Zeitung oder Die Presse, haben tatsächlich auf eine Veröffentlichung des Namens der Frau verzichtet. Andererseits stellt sich dann aber die Frage, inwiefern es die Privatinteressen der beiden schützt, wenn sie zwar die ganze Welt, Österreich aber nicht outet.
Öffentliches Tuscheln
So war der Skandal also auch Thema in den Blättern dieses Landes. Auch „um dem Publikum kein Massenphänomen zu verschweigen“ sollten Medien „einen von Social Media befeuerten Eklat möglichst sachlich erzählen“, schreibt dazu die ORF.at-Leiterin Julia Ortner in einem Kommentar auf Vol.at.
Das mit dem sachlichen Erzählen hat allerdings nicht besonders gut funktioniert. Statt zu berichten, was ist, wurde auch fleißig spekuliert. Hierzulande verließ man sich dabei vor allem auf US-amerikanische Boulevardblätter, die den Skandal seit mittlerweile einer Woche ausschlachten.
Für die Kronen Zeitung sind das britische Krawallblatt „The Sun“ und das Diskussionsforum „Reddit“ ausreichend Quellen, um zu bestätigen: „Beide sind nämlich verheiratet – jedoch nicht miteinander –, haben Kinder – und sind nun in Erklärungsnot.“
„C*** wiederum ließ sich 2022 von ihrem Ehemann K** T*** scheiden; ob sie seither erneut geheiratet hat, ist unklar“, spekuliert der Kurier hingegen mit Verweis auf „The Mint“ – wer oder was „The Mint“ sein soll, konnten wir nicht herausfinden. Dafür fragen wir uns, warum wir jetzt den Namen des Ex-Mannes von C. kennen. „CEO tritt zurück – jetzt kommt Kristins Ehe ans Licht“ verspricht schließlich Heute. Wer „Kristin“ ist, sollten die Leser:innen mittlerweile nämlich wissen.
Erschreckend ist auch, wie rasch der Name der Ehefrau von B. in den Medien kursierte – inklusive Details zu ihrem Beruf. Auf Heute liest man zum Beispiel den Namen der Schule, an der sie tätig ist und was sie dort genau macht – „Medienberichten zufolge“.
Die Krone zitiert wie viele andere die Klatschseite „Page Six“, die herausgefunden haben will, dass die Frau ihren Nachnamen auf Social Media geändert und später auch ihre Profile gelöscht hat. „Was Spekulationen über eine mögliche Trennung anheizt“, schreibt der Kurier. Vielleicht lag es aber auch daran, dass ihr untreuer Mann plötzlich weltbekannt war und sie genau das eben nicht werden wollte.
Die Gratiszeitung Heute hatte diese Info hingegen von der „New York Times“, schreibt sie. Dort wird der Name aber gar nie preisgegeben. Wahrscheinlich konnte sich Heute nicht mehr genau erinnern, ob sie von der „New York Post“ oder doch eher der „The Economic Times“ abgeschrieben hatte.
Es dauert nicht lang, da kursiert auch der Name einer völlig Unbeteiligten – zunächst auf Social Media, dann auf „Page Six“. Der Name gehört einer Mitarbeiterin des Unternehmens, die ebenfalls auf dem Video zu sehen sein soll – sie steht neben dem Paar und ist sichtlich peinlich berührt.
Doch obwohl das Unternehmen selbst dementiert, dass diese Person auf dem Konzert war, heizen einige Medien die Spekulation trotzdem an. Heute widmet der Frau unter dem Titel „Skandal um Tech-CEO weitet sich aus“ einen ganzen Artikel. Darin wird zwar auch das Dementi zitiert, trotzdem hält Heute fest: „Im Netz gehen die Meinungen auseinander“.
Halb- oder gar nicht wahr?
Ein ungeschriebenes Social-Media-Gesetz lautet: Geht etwas viral, wird es zugleich von Fake News begleitet. Gleich zu Beginn tauchte zum Beispiel ein gefälschtes Statement von Coldplay auf. Im Gegensatz zu Elon Musk ist von den österreichischen Onlinemedien keines darauf reingefallen. Einen Tag später titelt die Kronen Zeitung: „Hat er oder nicht? Wirbel um ‚Entschuldigung‘“. Die Krone erklärt darin zwar, dass eine im Netz kursierende Entschuldigung von B. gefälscht sei, druckt sie aber dennoch ab. Auf vol.at bzw. vienna.at übernimmt man die gefälschte Stellungnahme ohne diese Aufklärung.
In den Berichten wird außerdem so getan, als hätte die Ehefrau durch den Videoskandal von der Affäre erfahren und als wolle sie sich jetzt deshalb trennen. Weder das eine noch das andere wurde bisher bestätigt. Trotzdem steht in der Krone-Ausgabe von Sonntag: „Erst erfuhr seine Frau vom Fremdgehen, am Samstag trat er zurück.“ Und: „Natürlich macht das nun im Netz die Runde, die Gattin B***, wen wundert’s, ist ’not amused‘, die Scheidung steht im Raum“, erfindet ein Glossen-Schreiber im Standard.
Angebrachte Selbstkritik
Die stellvertretende Chefredakteurin des Standard Petra Stuiber findet indes: „Nicht lustig, die ‚Kiss Cam‘-Affäre“. Stuiber ortet einen „toxischen Mechanismus hinter Social-Media-Aufregern“ und meint: „Auch klassische Medien können sich diesem Mechanismus nicht entziehen, die Nachfrage beeinflusst das Angebot, und auch das ist selbstkritisch zu sehen.“
Diese Selbstkritik findet man auch anderswo – zumindest zwischen den Zeilen. Im Kurier beklagt Andreas Schwarz das „asoziale Netz, das sich nicht mehr einkriegt“ und in der Kleinen Zeitung schreibt Sandra Mathelitsch: „Es geht um zwei Personen, die vielleicht einen Fehler gemacht haben, aber keine Personen des öffentlichen Lebens sind – bis zu diesem Konzert.“ Und bis Medien darüber berichtet haben.
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